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Netzwerk Lehrerbildung im Zeichen von Patio13

Ein Bericht von Hartwig Weber (April 2008)

Der Plan, ein Netzwerk der Escuelas Superiores Normales aufzubauen, die sich auf die Probleme randständiger und bildungsferner Kinder spezialisiert haben, wird Schritt um Schritt verwirklicht. Im März 2008 hat die Kooperation zwischen den Normales in Copacabana und Manaure / Cesar begonnen.

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(Foto: Indiomädchen)

Sor Sara und ich haben Mitte März die Normal in Manaure / Cesar besucht, wo kürzlich noch die Guerilla das Sagen hatte. Die dort lebenden Salesianerschwestern kümmern sich um die Kinder schriftloser indigener Gruppen, die in Reservaten aufwachsen, belastet von den schädlichen Folgen der Zivilisation der Weißen (Alkoholmissbrauch, entfremdete Konsumbedürfnisse, Krankheiten), aber ohne Zugang zu deren Segnungen. Die Nonnen bilden junge Menschen vom Stamm der Yup-ka zu autochthonen Erziehern und Lehrern ihrer eigenen Kommunitäten aus. Um ihnen Bildungsmaterial an die Hand geben zu können, entwickeln sie zuerst eine Schriftsprache für das Yup und verfassen dann Lehrwerke für den Unterricht.

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(Foto: Desplazado-Mädchen)

Damit nicht genug. In Manaure haben sich Hunderte von Flüchtlingen (desplazados) angesiedelt, Vertriebene vom Land, deren Grund und Boden sich Guerilla, Paramilitärs und Mafia angeeignet haben, um dort den Kokaanbau ungestört betreiben zu können. Die Kinder der Landflüchtlinge besuchen Kindergarten, Grundschule und Sekundarstufe in der Escuela Normal der Salesianerschwestern. Sie sind für die Flüchtlinge der erste, wenn nicht einzige Ansprechpartner. Ab sofort wird es einen Austausch von Lehrern und Studenten zwischen den Normales in Copacabana und Manaure geben.

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(Foto: Flüchtlingssiedlung)

Pionierleistung der Normales
Die Lehrer an zahlreichen kolumbianischen „Normales“ sind regelrechte Pioniere am Rande der Zivilisation. Freiwillig geht dort so schnell keiner hin. Es sei denn „er“ ist Idealist – oder Nonne. Als die Schule von Guacari im Caucatal, Kolumbien, in die Luft flog, dauerte es nur wenige Tage, bis die Eltern der Kinder aus dem Schock erwachten. Dann begannen sie, aus den Trümmern sowie aus ungenutzten Baumaterialien und eigenhändig geschlagenem Holz die Schulgebäude von eigener Hand wieder aufzubauen. Die Guerilleros der FARC hatten das Dorf umzingelt und die Polizeistation mit Gasflaschen gesprengt. Dabei waren auch die umliegenden Häuser samt der Dorfschule zerstört worden. Wahrend des Baus fand der Unterricht der Kinder unter einem Schilfdach statt, das nach Art der Indios über einigen in den Boden gerammten Pfählen und Querbalken aufgeschichtet worden war.
Bei der zerstörten Schule handelte es sich um eine der sogenannten “Normalschulen” (Escuelas Normales Superiores), Einrichtungen mit antiquiert klingendem Namen, die jedoch nicht nur Bildungsanstalt sind, sondern gleichzeitig auch als politische, soziale, medizinische und kulturelle Zentren wirken. Dort kommen Kinder bereits im frühesten Alter in Kinderkrippe und Kindergarten unter. Dann folgen die Primar- und die Sekundar- sowie eine universitäre Stufe, in der die Jugendlichen schließlich zu Lehrern ausgebildet werden – Kinderrettungs- und –bewahranstalt, Volksschule, Gymnasium und Universität “unter einem Dach”. Aus diesen seltsamen, aus dem Europa des 19. Jahrhunderts stammenden Gebilden, die unter maßgeblichem Einfluss deutscher Lehrer in südamerikanischen Ländern, zum Beispiel Kolumbien, eingeführt, aufgebaut und geleitet wurden, sind heute Zentren der Volkskultur, des politischen Widerstandes und der Armutsbekämpfung geworden. Allein in Kolumbien gibt es 138 dieser Schulen. Die Normales liegen oft am Rande der zivilisierten Welt, in kaum zugänglichen Gegenden, wo Guerilla, Paramilitärs und Drogenmafia das Sagen haben und Angst und Terror verbreiten.

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(Desplazado-Familie)

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(Hausinteriors)

Um die Normales herum haben sich Scharen von Bauern und armen Landarbeitern niedergelassen, die infolge der anhaltenden Gewalt, blutiger Massaker, Drohungen und Entführungen zu Hunderten, ja Tausenden fliehen mussten und nun in Bretterbuden und Wellblechhütten hausen. Manche Normales wurden irgendwo in die Wildnis gestellt, so weit von den Gehöften (veredas) der Bauern entfernt, dass deren Kinder nach einigen Stunden Fußmarsch dorthin gelangen können. Manchmal liegen die Normales an der Grenze zum Urwald und in der Nähe sogenannter Schutzgebiete und Reservate, wo die traurigen Restbestände indigener Gruppen im Elend zu versinken drohen. Auch in der feuchtheißen Pazifikregion zwischen Urwald und Meer findet man sie. Dorthin ist die schwarze Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte zurückgedrängt worden, abgehängt, aufgegeben, vergessen vom Rest der Welt, und, was schlimmer ist, auch von der Regierung in der fernen Hauptstadt. Die jungen Menschen dort fühlen sich wie in einem großen Freiluftgefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

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(Indiomädchen)

Viele Gründungen von Normales gehen darauf zurück, dass man Ordensschwestern wie Pioniere in die Wildnis schickte. An Ort und Stelle bauten sie Bildungszentren auf, die sich heute dafür zuständig sehen, den Nachwuchs der entwurzelten Bauern, traumatisierte Kindersoldaten der Guerilla und der Paramilitärs, Indiokinder, die weder lesen noch schreiben können, zumal ihre Sprache keine Schrift kennt, die chancenlosen Kinder der schwarzen Bevölkerung, den verstoßenen, verlassenen, obdachlosen und kranken Nachwuchs der verarmten Stadtbevölkerung, um den sich niemand kümmert, und die behinderten Kinder zu betreuen, die die Campesinos vor den Nachbarn schamvoll in ihren Hütten verbergen, wo sie ohne Kontakt und Bewegungsmöglichkeit dahinvegetieren und vor Einsamkeit und Langeweile eingehen.

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Rasch merkten die pädagogischen Pioniere, dass sie mit Bildung allein nicht viel ausrichten konnten. Sie mussten die Defizite im Leben der Kinder und die Belange ihrer Eltern, auch der Alten und Kranken, mit ins Kalkül ziehen. So entwickelte jede “Normal” - je nach Situation und Lage der Dinge - ihr eigenes Gesicht, ihre Konzeption und Pädagogik. Wo staatliche Ordnungskräfte und Verwaltung fern sind oder kaum in Erscheinung treten, stehen die Lehrerinnen der Normales, unter ihnen viele Nonnen, bis heute “ihren Mann”.
Neuerdings droht der Staat den Normales den Garaus zu machen. Diesen Schulen fehle die wissenschaftliche Fundierung, die empirisch nachweisbare Qualität. Sie müssten erst “akkreditiert” werden, das heißt, ein Verfahren durchlaufen, dem die Normales nicht gewachsen sind und für das sie angesichts der Überfülle an täglicher Arbeit auch keine Zeit haben. Zusehends wird ihnen von staatswegen die Legitimation abgesprochen, nach und nach die finanzielle Unterstützung entzogen. Sie drohen auszubluten und schließlich von der Bildfläche zu verschwinden. Keine andere Einrichtung wird die entstehende Lücke schließen, keine Universität wird sich dort niederlassen, wo eine Normal ihre Tore geschlossen hat. Mit dem Aufbau eines Netzwerkes der Normales in den Randlagen der Zivilisation, die sich mit den dringlichsten Problemen des Landes befassen, will Patio13 dieser Entwicklung entgegenwirken und publizistische Maßnahmen ergreifen, die die Öffentlichkeit ins Bild setzen.

Hartwig Weber, April 2008